Aktuelles aus Brüssel

Im Rahmen unserer Brüsselfahrt im Mai 2016 hatten wir die Gelegenheit mit Ska Keller, Vizepräsidentin und migrations- und handelspolitische Sprecherin der Grünen/EFA-Fraktion im Europaparlament und Michel Reimon, MdEP aus Österreich, Experte für Freihandelsabkommen, Digitalthemen und Nahost zu sprechen. Themen waren die aktuelle Flüchtlingspolitik und die Zukunft Europas.

Die Flüchtlingspolitik Europas: Zwischen internationalem Egoismus und lokalem Altruismus, viele Rückschritte aber auch Grüne Erfolge

 
 
Internationaler Egoismus

Europa befindet sich in Aufruhr. Die gegenwärtige Flüchtlingskrise hat IMG_4015nach Ansicht von Ska Keller, nichts mit der Anzahl der Menschen zu tun, die nach Europa wollen. Die Krise bestehe vielmehr darin, dass die Solidarität fehlt. „Würden die 1,5 Mio. Flüchtlinge gleichmäßig auf die EU Staaten mit ihren 500 Mio. Einwohnern verteilt, dann hätten wir keine Krise."

Das gegenwärtige Problem ist von Deutschland hausgemacht. „Viele Staaten wollten früher schon einen neuen Verteilungsschlüssel, aber die Bundesregierung war dagegen und hielt an der Dublin Verordnung fest. Deswegen ist es so unglaubwürdig, wenn Deutschland heute Solidarität einfordert, zu der wir vor drei Jahren noch nicht bereit waren.“

Viele Rückschritte

Um möglichst keine Flüchtlinge aufnehmen zu müssen, werfen die Staatchefs die Richtlinien über Bord. So geschehen im Türkei-Deal, bei dem das EU-Parlament übergangen wurde. „Im Krisen Modus fallen wir zurück in alte undemokratische Strukturen, die nicht kontrollierbar sind. Internationales Recht, Grundrechte, Menschenrechte werden außer Kraft gesetzt“, kritisiert Ska Keller.

„Alle Fortschritte, die wir erreicht haben, fallen gerade weg: Mehr Rechte für Flüchtlinge, mehr Sicherheitsbestimmungen stehen wieder zu Disposition, Sachleistungen statt Geldleistungen sollen eingeführt werden. Die Ausweitung der Liste an Sicheren Herkunftsländern auf den Westbalkan und die Türkei, obwohl diese nicht sicher sind. Schnellere Abschiebungen. Es wird schwierig sein, das zu verhindern.“

Grüne Erfolge und Visionen

Doch es gibt auch wichtige Grüne Erfolge: Bei der Grenzschutz Agentur Frontex wurde eine Menschenrechtsbeauftragte eingeführt, es wurde eine Beschwerdestelle für Flüchtlinge eingeführt und die Verfolgung aufgrund des Geschlechts wurde als Fluchtgrund anerkannt.

Wie sieht die Vision einer europäischen Flüchtlings Politik aus?

Ska Keller: „Anstelle des Türkei-Deals müssen wir das Dublin System reformieren, einen festen Verteilungsschlüssel pro Land festlegen, legale Einreisemöglichkeiten über Kontingente schaffen, die den familiären Hintergrund berücksichtigen, ordentliche Asylstandards beim Verfahren einführen und bei den Fluchtursachen ansetzen. Wir brauchen eine gemeinsame Migrationspolitik.“

Lokaler Altruismus

Trotz den Egoismen auf internationaler Ebene ist Ska Keller optimistisch. „Auf der lokalen Ebene bewegt sich viel Gutes. Ganz im Gegensatz zur EU-Ebene. Es gibt viele Bürgerinitiativen in ganz Europa, die sich für Flüchtlinge einsetzen. Bei den Menschen hat ein Meinungswandel stattgefunden, in der Frage, wie bringe ich mich ein. Das hängt damit zusammen, dass wir mehr von der Welt mitbekommen und es mehr Anteilnahme gibt. Diese Perspektiven werden von den Bürgern und den Medien viel zu wenig wahrgenommen.“

 

Die Zukunft Europas: Komplexitätsreduktion und Bürgernähe

 
Europa ist zu kompliziert

„Die Kompetenzverteilung und die Zuständigkeiten in der EU sind zu intransparent“, kritisierte Michel Reimon. „Die Legitimation von Entscheidungen fällt zurück auf die Nachvollziehbarkeit von IMG_4019Entscheidungsprozessen. Wo wird welche Entscheidung von wem getroffen, das ist für Außenstehende nicht nachvollziehbar. Die Organisationsstruktur ist zu kompliziert. Das macht die korrekte Kommunikation von Entscheidung nach außen schwierig.“

Beispiel Glyphosat und die Enthaltung der Grünen, obwohl sie dagegen sind. Die Kommission hat die Verlängerung des Unkrautvernichtungsmittels vorgeschlagen. Es gab die Entscheidungsmöglichkeiten entweder Ja = Verlängerung 15 Jahre oder Nein = Verlängerung um 7 Jahre. Die Grünen wollten keine Verlängerung, so kam die Enthaltung zustande.

TTIP

Zu den aktuellen Entwicklungen des Freihandelsabkommens TTIP erklärt Michel Reimon:

„Momentan ist TTIP blockiert. Beide Seiten bestehen auf ihren Forderungen. Der Investitionsschutz muss geändert werden, weil private Schiedsgerichte bei uns nicht mehr durch kommen würden. Im September wird es auf Regierungsebene abgestimmt und im Oktober auf EU-Parlamentsebene. Die Industrie macht großen Druck das Abkommen noch vor den US-Wahlen abzuschließen. Wir sind zuversichtlich, die Bestimmung zum Investorenschutz im Parlament zu kippen.“

Fehlendes Europabewusstsein

Ein weiteres Problem sieht Michel Reimon in einem fehlenden Europabewusstsein:

„Es gibt keinen europäischen Diskurs über ein europäisches Thema. In baltischen Ländern gibt es TTIP nicht, in Österreich kann man keine Wahlen gewinnen, wenn man für TTIP ist. In Deutschland als europäisches Gründungsmitglied gibt es ein größeres EU-Bewusstsein, als in jüngeren EU-Staaten wie z.B. Polen. Für eine politische Union müssen wir warten bis die bestimmenden Kräfte in der EU aufgewachsen sind und sich eine europäische Identifikation herausgebildet hat. Der Kampf für ein gemeinsames Europa wird ein Generation Kampf sein.“

Hinzu kommt, dass es zunehmend schwieriger sei den Euroskeptikern etwas entgegenzusetzen: "Wohlstand in Zeiten der Krise geht nicht so richtig, Frieden ist auch irgendwie selbstverständlich. Daraus kann man kann man keine Europa Begeisterung erzeugen. Doch die brauchen wir ganz dringend, denn die Herausforderungen können wir nur gemeinsam lösen.“

Europa muss bürgernäher werden!

Viele EU-BürgerInnen bewegten sich zwischen Abneigung und Erwartung. „Viele finden die EU zwar blöd, erwarten aber trotzdem viel von ihr. Das ist Paradox!“, so Michel Reimon.

„Viele sind verunsichert. Die Leute denken, meinen Kindern wird es nicht besser gehen. Bei ungeregelten Märkten und einer sinkenden Sozialpolitik sind diese Ängste nachvollziehbar. Wenn dann die EU nicht für mehr Sicherheit sorgen kann und Europa den 20ern nicht etwas anderes als prekäre Jobs zur Verfügung stellen kann, dann wird es schwierig für eine europäische Vision zu werben.

Wir müssen an der Erwartung ansetzen und mehr im Bereich soziale Sicherheit tun: Bessere Tarifsysteme, anheben von Mindestlohnstandards. Europa hilft mir auch in meinem ganz persönlichen Leben – dieses Gefühl müssen wir vermitteln.“

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