Klage gegen Tihange in entscheidender Phase

Der Gerichtsprozess gegen den Hochrisikoreaktor Tihange 2 geht in eine entscheidende Phase: Letztmalig vor dem ersten Verhandlungstermin, der voraussichtlich im Juni 2020 stattfinden wird, hatten die Kläger nun noch einmal Gelegenheit, dem Gericht schriftlich ihre Argumente vorzulegen und die Argumente des Betreibers Electrabel und der belgischen Atomaufsicht FANC zu entkräften.

Die Kläger sind die Städteregion Aachen, die Bundesländer NRW und Rheinland-Pfalz, unsere niederländische Nachbarstadt Maastricht und die luxemburgische Stadt Wiltz, zwei Unternehmen sowie neun natürliche  Personen, darunter die Vorsitzenden der im Städteregionstag vertretenen Fraktionen.

„Es ist für uns nach wie vor nicht der Nachweis erbracht, dass Tihange sicher ist.  Ganz im Gegenteil: Die ständige Stilllegung aufgrund von Pannen ist sehr beunruhigend“, meint hierzu Ingrid von Morandell, die als Fraktionsvorsitzende der Grünen in der Städteregion eine der Klägerinnen ist.

Vor allem die Häufung sogenannte Praecursor (lateinisch: Vorläufer) Störfälle in Tihange sind extrem beunruhigend: dabei handelt es sich um Zwischenfälle in einem Atomkraftwerk, die zu schweren Schäden am Reaktorkern, bis hin zur Kernschmelze führen können. Zwischen 2013  und 2015, also innerhalb von nur zwei Jahren, gab es insgesamt acht Praecursor Störfälle in Tihange. Manche Experten sehen sie als Vorboten einer unvermeintlichen Katastrophe, die nur abgewendet werden kann, indem man Tihange sofort abschaltet. Vor allem das hohe Alter der AKW birgt ein sehr hohes Risikopotential. Ausgelegt für eine Laufdauer von 40 Jahren, ist Tihange  jetzt bereits seit 44 Jahren am Netz. Betrieben werden können solche Uralt-AKW nur noch mit Spezialmaßnahmen. So muss das Notkühlwasser auf 40 Grad vorgeheizt werden. Denn je spröder der Stahl des Druckbehälters  ist, desto weniger hält er plötzliche Temperaturunterschiede aus. Wird bei fast 300 Grad Celsius Betriebstemperatur Notkühlwasser mit einer Temperatur unter 10 Grad eingeleitet, ist die Gefahr groß, dass es zu einem thermischen Schock und zum Spontanbruch kommt. Dabei birst der Druckbehälter - und das ist so etwas wie der schlimmste Vorfall in einem Atommeiler.

Kernpunkt des Gerichtsverfahrens sind dann auch tausende von Haarrissen, die den Reaktordruckbehälter des AKW Tihange 2 durchziehen und die immer mehr und immer länger werden. Sollte der Druckbehälter bersten, würde sich die Euregio in ein zweites Tschernobyl verwandeln und Städte wie Maastricht, Lüttich und Aachen würden dauerhaft radioaktiv verseucht und unbewohnbar.

Die belgische Atomaufsicht FANC, deren Leiter Jan Bens fast sein ganzes Berufsleben beim belgischen AKW Betreiber Electrabel verbracht hat, für diesen zuletzt das AKW Doel leitete und nun seinen früheren Arbeitgeber überwachen soll, wischt ebenso wie Electrabel selbst alle Bedenken vom Tisch: angeblich gab es die Haarrisse von Beginn an und sie seien aufgrund besserer Messverfahren erst jetzt entdeckt worden. Aber selbst das wäre alles andere als beruhigend.

„Wir sind inzwischen sicher, dass die Risse schon beim Bau des Reaktors festgestellt worden waren. In den ersten Protokollen tauchen sie auf, in den weiteren für die Genehmigung relevanten Unterlagen sind sie plötzlich wieder verschwunden", sagt der Physiker Wolfgang Renneberg, bis 2009 Leiter der Abteilung Reaktorsicherheit, Strahlenschutz und Entsorgung des deutschen Bundesumweltministeriums und heute Berater der Städteregion Aachen. „Es gibt nur eine Erklärung: Entweder der Antragssteller hat die Behörde getäuscht oder die Behörde hat mitgemacht. Ein Reaktor mit so vielen Fehlstellen wäre sonst von keiner Kontrollbehörde der Welt genehmigt worden. Ich habe schon lange mit Atomanlagen zu tun, aber das ist der schlimmste Fall, den ich je gesehen habe. Dieser Reaktor muss sofort vom Netz."

Und als wären die Haarrisse nicht schon schlimm genug, ist nun ein weiteres gravierendes Problem in den Hochrisikoreaktoren aufgetaucht: Im September 2018 wurde bei einer geplanten Überprüfung durch Engie Electrabel Betonzerfall in dem Bunker-Gebäude von Tihange 3, wo sich die Notfall-Systeme befinden, festgestellt. Der Betonbunker soll Medienberichten zufolge zwar zwischenzeitlich saniert sein, einen Sicherheitsnachweis gibt es indes nicht.

Tihange 2 erwirtschaftet pro Tag eine Millionen Euro Gewinn, und die Bundesrepublik Deutschland sitzt mit am Tisch, wenn das Geld verteilt wird:  2018 hielt der Bund über seine Pensionsfonds Anteile an Engie-Electrabel im Wert von 27,4 Millionen Euro. Davon profitieren Bundesbeamte, Bundestagsabgeordnete und alle Minister, so auch Bundesumweltministerin Svenja Schulze (SPD). „Solche Aktien haben im Besitz der Bundesregierung nichts zu suchen, damit wird der Betreiber der belgischen Schrottreaktoren indirekt unterstützt“, meint hierzu unser Grüner Bundestagsabgeordneter Oliver Krischer.

Und noch jemand verdient kräftig mit am nuklearen Hochrisikoprofitcenter Tihange: die Brennelementfertigungsanlage Lingen (Niedersachsen) liefert die Brennstäbe für Tihange. Sowohl die frühere Bundesumweltministerin Barbara Hendricks (SPD) als auch ihre Nachfolgerin Svenja Schulze (SPD) weigern sich standhaft, die Anlage in Lingen zu schließen.

Die Bewohner der Euregio würden im Falle eines GAU in Tihange hingegen weitgehend auf ihren Schäden sitzen bleiben, denn der Betreiber haftet aufgrund internationaler Verträge, denen auch Deutschland zugestimmt hat, nur bis zum Höchstbetrag von 1,2 Milliarden Euro. Zum Ver­gleich: Betrei­ber Tepco hat für die Fukushima-Katastrophe bisher rund 37 Mil­li­ar­den Euro gezahlt.

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