Tschernobyl 26. April 1986

Block 4 Atomkraftwerk Tschernobyl, 26. April 1986, 1:23 Uhr: 205 der 211 Steuerungsstäbe des Reaktors sind ausgefahren, eine Notfallübung ist durch Fehlbedienungen der Reaktormannschaft vollkommen außer Kontrolle geraten. Die Leistung des 3.200 Megawatt Blocks schießt unkontrolliert nach oben. Schichtleiter Akinow bestätigt den Notausschaltknopf AZ-5. Schlagartig fallen die Steuerungsstäbe zurück in den Reaktor, eigentlich müsste die Kettenreaktion jetzt sofort zum Erliegen kommen.
Was Akinow nicht wissen kann: Die Spitzen der Steuerungsstäbe hatte man aus Kostengründen aus Grafit gefertigt; ein Moderator, der die Kettenreaktion nicht bremst, sondern beschleunigt. In dem überhitzten Reaktor klemmen die Steuerungsstäbe fest, die Leistung schießt explosionsartig in die Höhe. Aus dem Atomkraftwerk ist eine Atombombe geworden. Um 1:23:40 Uhr explodiert Block 4 des AKW Tschernobyl. In den nächsten Wochen breitet sich eine radioaktive Wolke über Europa aus, nach Schätzungen der WHO sterben ca. 4.000 Menschen an den Folgen, der (wissenschaftlich umstrittene) Torch-Report geht sogar von 60.000 Todesfällen aus.
Die Strahlung ist zunächst so stark, dass alle Schaulustigen, die im 20 Kilometer entfernten Prypjat von einer Brücke aus das Feuer in Tschernobyl beobachten, in den nächsten Wochen sterben. Auch die meisten Feuerwehrleute, die den Grafitbrand im Reaktor löschen, überleben dies nicht. Einige waren so verstrahlt, dass sie in Bleisärgen beigesetzt werden mussten. Hierzu zählt zum Beispiel Wassili Ignatenko, der als erster Feuerwehrmann auf dem Reaktordach war. Er hinterließ seine Frau Ludmilla und deren ungeborenes Kind, das kurz nach der Geburt an den Folgen der Strahlung starb. Seine Frau hatte ihn im Krankenhaus besucht. Zu den ersten Toten zählten ebenfalls Alexander Kudrjawzew und Waleri Perewostschenko, die versuchten, die Steuerungsstäbe zu finden und per Hand wieder in den Reaktor zurückzufahren. Der Arzt Varsinian Orlow behandelte in der Nacht der Katastrophe Verletzte direkt an der Unglücksstelle. Auch er starb an den Folgen der Strahlenkrankheit.
Was wenig bekannt ist: nur dem todesmutigen Einsatz von drei Rettungskräften, nämlich Alexei Ananenko, Boris Baranow und Valeri Bespalov ist es zu verdanken, dass es nach dem 26. April 1986 nicht noch zu einer weiteren, wesentlich schwereren Explosion gekommen ist, die auch die Blöcke 1-3 des AKW zerstört, große Teile Osteuropas dauerhaft radioaktiv verseucht und Millionen Menschen das Leben gekostet hätte.
In den Monaten nach dem GAU in Tschernobyl versuchte die Sowjetunion, das Schlimmste zur verhindern. Radioaktive Wolken, die auf den Großraum Moskau zutrieben und die Millionenstadt gefährdeten, wurden künstlich über Weißrussland zum Abregnen gebracht und kontaminierten große Gebiete und die nichts ahnende Bevölkerung. Um zu verhindern, dass die hochradioaktive flüssige Lava, die sich im Inneren des AKW gebildet hatte, ins Grundwasser eindrang, installierten Bergleute unter dem Reaktor ein Notkühlsystem. Jeder zweite Bergmann überlebte den Einsatz nicht. Um den havarierten Reaktor wurde eine als Sarkophag bekannte Betonhülle errichtet. Hierzu musste jedoch zunächst radioaktiver Schutt von den Dächern der umliegenden Gebäude entfernt werden. Selbst Roboterrover, die in den 70er Jahren erfolgreich bei Mondmissionen eingesetzt wurden, versagten in der Strahlung. Also wurden für die Aufräumarbeiten zehntausende von Hilfskräften, sogenannte Liquidatoren, zwangsrekrutiert. Ihr Einsatz dauerte immer nur wenige Minuten, anschließend wurden sie wieder zurück in ihre Dörfer geschickt. Wie viele Opfer es unter den Liquidatoren gibt, ist nicht bekannt.
Was für die Ukraine Tschernobyl ist, könnte einst für die Euregio Tihange sein. Immer wieder kommt es in den Uralt-AKW, die eigentlich schon längst hätten abgeschaltet werden sollen, zu Störfällen. Der Druckbehälter von Block 2 ist zudem von tausenden von Haarrissen durchzogen.
Die Städteregion hat deswegen auf Antrag von Grünen und CDU hin 1986 einen Notfallplan ausgearbeitet. In der Folgezeit wurden Messgeräte angeschafft und Jodtabletten und Atemschutzmasken eingelagert. Ebenfalls wurde das Sirenensystem wieder reaktiviert. Eine 22seitige Broschüre gibt Bürgern zudem Tipps für den Notfall. Gemeinsam mit den Grünen klagt eine Allianz aus mehreren Kommunen in der Euregio in Belgien gegen den Weiterbetrieb von Tihange, ein Urteil wird im Juni erwartet. Weiterhin kämpfen wir Grüne dagegen, dass Tihange immer noch mit Brennelementen aus Deutschland beliefert wird.
Tschernobyl zeigt uns, dass ein GAU in einem Atomkraftwerk nicht beherrschbar ist. Die Strahlung in der Ruine ist nach wie vor so stark, dass sich der Sarkophag zersetz. Deswegen wurde mit internationaler Hilfe eine zweite Schutzhülle gebaut, die hundert Jahre halten soll. Wie man danach weiter verfahren soll – niemand weiß es.
In den vergangenen Wochen sind in der radioaktiv verseuchten Sperrzone rings um Tschernobyl Waldbrände ausgebrochen, die radioaktive Rauch- und Aschewolken in die Atmosphäre verfrachten. Die Metropole Kiew ist erneut in Gefahr.
Sollte es in Tihange zu einem ähnlichen Unfall kommen, dann werden auch die Notfallpläne der Städteregion nicht verhindern können, dass große Teile der Euregio, mitunter auch die Städte Aachen, Maastricht und Lüttich, dauerhaft unbewohnbar bleiben und das Menschen sterben. Es gibt daher nur einen einzigen Notfallplan, der uns vor Tihange schützt: Abschalten!

Zurück